Zeitreise durch Krakau
Ich sitze auf der Rückbank eines Trabanten 600 und staune amüsiert wie Crazy Guide Oleg dem kleinen grünen Ostgeschoss alles abverlangt. Die rechte Hand an der Lenkradschaltung, die Linke im Wechsel zwischen Steuer, Cola Flasche, Handy oder einem der wenigen Knöpfe, die sich vom Armaturenbrett lösen, düsen wir Richtung Nowa Huta, einem Arbeiterstadtteil im Osten Krakaus.
Gleich neben der großen Eisenhütte entstand unter dem kommunistischen Regime in wenigen Jahren eine »perfekte Stadt« aus dem Nichts. Geplant am Reißbrett nach französischem Vorbild mit breiten Straßen, eigenen Supermärkten, Schulen, Kindergärten, Parkanlagen, Sportstädten… Als Heimat von über 200.000 Menschen ist es heute eher der marode Charme, der Nowa Huta ausmacht. Unsere klapprigen Fieberglas-Zweitakter passen jedenfalls perfekt in diese bizarre Kulisse. Wir nehmen noch schnell einen Wodka an der »Allee der Rosen«, bevor wir mit Oleg tiefer eintauchen – in die kommunistisch, sozialistische Vergangenheit.
Der nächste Wodka wartet bereits…
…und zwar im »privaten Museum« der Jungs von Crazy Guides, einer urtypischen Wohnung in Nowa Huta, die noch heute allerlei Schätze vergangener Tage beherbergt: Kunststoff-Blumen, Zigarettenspender und schwarz-weiß Fernseher im Wohnzimmer, Schnaps-Destille im Bad und Fleischwolf in der Küche – jeder unserer Gruppe quietscht vor Glück in Erinnerung an die eigene großelterliche Einrichtung. Doch die Kuriosität des Nachmittags ist noch lange nicht vorbei. Nur zwei Häuserblocks weiter steht ein Panzer auf dem Bürgersteig. Wer kann schon sagen, dass vor dem eigenen Küchenfenster ein Panzer parkt?
Was man so alles findet…
Krakau ist aber mehr als die Summe verschiedener Kuriositäten. Vor allem ist es eine ziemliche spannende und ausgesprochen schöne Stadt. Bereits am Vortag waren wir ein- und vor allem auch abgetaucht in die Geschichte der Stadt. Bei Umbauten am großen Marktplatz vor der berühmten Marienkirche sind die Arbeiter zufällig auf alte Bausubstanz gestoßen und haben erstaunliche stadtgeschichtliche Entdeckungen gemacht. Die archäologische Fundstätte ist heute Heimat eines unterirdischen Museums, in dem der Besucher einiges über die Stadtgeschichte erfahren kann. Modernes Ausstellungsdesign, tolle Lichtszenarien und jede Menge Infotainment machen diese mittelalterliche Zeitreise zu einem echten Erlebnis für Groß und Klein.
Was geht ab?
Dass die ehemalige polnische Hauptstadt nicht nur historisch spannend sondern auch eine moderne Stadt und Heimat junger kreativer Menschen ist, zeigt sich zum Beispiel auch bei einem Besuch des Jüdischen Viertels. Hier gibt es neben Streetart viele kleine Galerien, tolle Restaurants, Bars und alles was die unzähligen partyhungrigen Studenten so wünschen. Am Abend hat man die Qual der Wahl, ob man im Trendviertel Podgórze, auf einem der Schiffe auf der Weichsel, an der Bar des Crikoteca oder beim Forum Przestrzenie – meinem persönlichen Favoriten – ausgiebig feiert. Apropos Feiern: Dieses Wochenende waren beim Krakow Live Festival Acts wie Kendrick Lamar, Rudimental, Ratatat oder TV on the Radio am Start. Warum war ich nur ein Wochenende zu früh in der Stadt?!
Krakau – eine Kreative Metropole
Wer sich neben Musik auch für zeitgenössische Kunst und Design interessiert, der sollte unbedingt das MOCAK, Museum für Gegenwartskunst besuchen, das an der Stelle der ehemaligen Emaillefabrik von Oskar Schindler entstand. Die Sammlung des Museums und die aktuelle Ausstellung ” Poland – Israel – Germany: The Experience of Auschwitz” hat mich nachhaltig beeindruckt. Bilder sagen mehr als Worte – am besten live und vor Ort. Wer zum Beispiel Ende September nach Krakau kommt, dem lege ich zusätzlich die interdisziplinäre Kunstausstellung im öffentlichen Raum beim Grolsch Artboom Festival ans Herz.
Und und und…
Das verlängerte Wochenende in Krakau war geprägt von wahnsinnig vielen Eindrücken – und immer noch viel zu kurz, um wirklich alles zu entdecken und jedem Aspekt der Stadt ausreichend Zeit zu widmen. Daher meine Empfehlung: Selbst erkunden! Ob zu Fuß, mit dem Bike oder im Trabi, ob in Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Nazi Regimes, unterwegs auf kommunistischen Prachtstraßen oder den heiligen Wegen von Papst Johannes Paul II, Karol Józef Wojtyła… Es gibt unendlich viel zu sehen, zu erleben, zu verarbeiten – und zu verkosten. Krakau, ich komme wieder.
Anne
schrieb amHi Hendryk, es war echt cool. Gut beschrieben! Liebe Grüße aus Münster, Anne